Vom „halben Bein“ des Kriegsveteranen bis zur Begnadigung des Todeskandidaten: Hunderte Bittschriften zu unterschiedlichsten Themen und in verschiedensten Formen erreichten jährlich die Staatsoberhäupter des 19. Jahrhunderts. Aber nicht nur die höchsten Entscheidungsträger der Monarchien und frühen Republiken wurden um Gnadengaben gebeten, auch bedeutende Persönlichkeiten in ihrem Umfeld oder in anderen Macht- und Einflusspositionen, wie Hochadelige, Mitglieder der Herrscherfamilien, Minister oder Parlamentsabgeordnete waren über diese Textsorte mit dem Volk verbunden und konnten dadurch nicht selten ein enges Patronagenetzwerk aufbauen.
So umfangreich jedoch die Zahl der überlieferten Bestände, so überschaubar ist gleichzeitig die diesbezügliche Forschung. Hier soll der Workshop ansetzen: Er sucht nach methodisch und inhaltlich innovativen Wegen, mit Bittschriften als historischer Quelle umzugehen und aus ihnen dadurch neue Erkenntnisse für aktuell relevante Forschungsfelder zu generieren. Fünf Fragenkomplexe sollen dabei im Vordergrund stehen:
- Wie lassen sich Bittschriften als Textsorte beschreiben und definieren? Wie sind sie von anderen mündlichen und schriftlichen Bitten (z.B. Audienzen, Petitionen) abgrenzbar? Welche stilistischen und inhaltlichen Merkmale besaß eine “gute”, d.h. eine erfolgsversprechende Bittschrift im 19. Jahrhundert und wie zirkulierte das Wissen über deren Abfassung?
- Worauf stützten die Verfasser der Bittschriften ihre Hoffnung auf Bewilligung? Welche Formen von Loyalität werden anhand der Bittschriften sichtbar und wie wurden diese in den Texten transportiert?
- Welche gesellschaftlichen und politischen Akteure erhielten wann, warum und von wem eine Bittschrift? Welche Möglichkeiten der Einflussnahme besaßen sie bzw. wie lässt sich diese „messen”? Wie gingen sie selbst und der staatliche Verwaltungsapparat mit den Bittschriften um? Welche Rolle spielten dabei insbesondere genderbezogene Unterschiede?
- Inwiefern dienten Bittschriften (und ähnliche Formate wie Petitionen oder Gravamina) der Staatsbildung und politischen Modernisierung durch nicht-staatliche Akteure, inwiefern war also der Einzelfall Ausgangspunkt weitreichenderer staatsrechtlicher Reformen? Wie veränderte im Gegenzug aber auch die entstehende Sozialpolitik die Inhalte und Bedeutung von Bittschriften im 19. Jahrhundert?
- Wie lassen sich Bittschriften als Massenquellen der Neuzeit systematisch auswerten? Welche Methoden sind für ihre Analyse sinnvoll und welche Möglichkeiten bzw. Grenzen bieten hierbei insbesondere die Digital Humanities?
Damit schließt dieser Workshop konzeptionell an zahlreiche, virulente Themenfelder der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft an: Durch den Fokus auf die Textsorte der Bittschriften versucht er Regieren als soziale Praxis gleichermaßen „von oben“ wie auch „von unten“ zu diskutieren und eine Vielzahl von lange Zeit wenig beachteten Akteuren – beispielsweise Frauen und Personenverbände – in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. Ihre „Agency“ als Produzenten und Rezipienten von Suppliken und Petitionen soll dabei vor allem in Zusammenhang mit der Ausbildung moderner Staatlichkeit im 19. Jahrhundert analysiert werden, die gerade im Vormärz stark von außerstaatlicher Seite getragen wurde. Der Workshop soll dabei insbesondere von der grundsätzlichen Frage begleitet werden, wie Bittschriften als traditionelles, imperiales Herrschaftsinstrument im 19. Jahrhundert nicht nur Loyalitäts- und Patronagebeziehungen, sondern auch eine politisierte und systematisierte Verrechtlichung individueller Ansprüche beförderten und dadurch die Entwicklung moderner Politikfelder anregten.
Um das Potenzial der Bittschriften als Quelle der Geschichtswissenschaft zu erhöhen, ist zudem eine Reflexion formal-methodischer Aspekte von Nöten – auch zu diesem Anliegen soll der Workshop einen Beitrag leisten und insbesondere die Bedeutung der Digital Humanities für die Aufbereitung und Präsentation dieser großen, prä-digitalen Quellenbestände hervorheben.
Ziel der in München stattfindenden Veranstaltung ist die Vernetzung junger WissenschaftlerInnen, die zu einem der oben genannten Themenbereiche arbeiten. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf dem 19. Jahrhundert, ergänzende Blicke in das 18. und 20. Jahrhundert sind aber ebenfalls willkommen. Räumlich fokussiert sich der Workshop auf die Habsburgermonarchie (insbesondere die böhmischen Länder) sowie Preußen bzw. das deutsche Kaiserreich (insbesondere Schlesien). Wir ermutigen daher vor allem HistorikerInnen aus den sogenannten Nachfolgestaaten dieser Imperien zur Teilnahme, sind jedoch auch an vergleichenden Perspektiven interessiert.
Wir bitten um Zusendung eines Abstracts (2.000 Zeichen mit Leerzeichen) in Deutsch oder Englisch und eines kurzen CVs bis 1. März 2020 an
marion.dotter@collegium-carolinum.de
Eine Finanzierung zur Erstattung der Reise- und Übernachtungskosten wird beantragt.