HistoGenes. Integrating genetic, archaeological and historical perspectives on Eastern Central Europe, 400-900 AD
Die Jahrhunderte zwischen der Römerzeit und der Ankunft der Ungarn, von 400 bis 900, waren in Ostmitteleuropa eine Zeit der Migrationen: Hunnen und Goten, Langobarden und Awaren, Franken und Slawen wechselten sich in der Herrschaft ab. Wir wissen manches über diese Zeit aus schriftlichen Berichten und aus Grabfunden – die Archäologen haben bereits über 100.000 Gräber erschlossen, oft mit reichen Beigaben. Und dennoch, woher all diese Leute kamen und welche Spuren die vielen Zu- und Abwanderungen in der Bevölkerung hinterlassen haben, wissen wir kaum. Das soll nun ein soeben genehmigtes EU-Großprojekt unter österreichischer Leitung untersuchen.
Der Synergy-Grant des European Research Council’ HistoGenes (Integrating genetic, archaeological and historical perspectives on Eastern Central Europe, 400-900 AD)’ ist mit 10 Millionen Euro dotiert und wird 6 Jahre dauern. Koordiniert wird er von Walter Pohl, Direktor des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Professor für Geschichte des Mittelalters am Institut für Österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien. Im Wiener Team beteiligt sind auch der Archäologe Falko Daim, die Prähistorische Abteilung des Naturhistorischen Museums und die Universität Wien. Drei führende ausländische Forscher leiten weitere Teams: der Genetiker Johannes Krause am Max-Planck-Institut in Jena, der Historiker Patrick Geary am Institute for Advanced Study in Princeton und der Archäologe Tivadar Vida an der Universität Budapest.
Das Projekt erschließt eine neue Dimension in der genetischen Analyse alter DNA und der historischen Deutung der Ergebnisse. Die Archäogenetik hat in den letzten Jahren spektakuläre Fortschritte gemacht, von der Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms bis zum Nachweis neolithischer Wanderungen nach Europa. Nun ist es erstmals auch möglich, die genetisch bereits außerordentlich einheitliche Bevölkerung historischer Epochen in Europa zu analysieren. Das HistoGenes-Projekt dringt dabei in ganz neue Größenordnungen vor: bisher sind erst ein paar Dutzend Genome aus der Zeit bekannt, einige hundert untersucht. HistoGenes wird 6000 Individuen aus der Region analysieren. Damit wird auch eine solide Grundlage für weitere vergleichende Forschungen geschaffen. Dazu kommen eine Reihe weiterer hochentwickelter naturwissenschaftlicher Verfahren: Isotopenanalyse hilft Zuwanderer zu erkennen, physische Anthropologie gibt Auskunft über Ernährung, körperliche Arbeit und Kampfverletzungen, Sedimentuntersuchung kann klimatische Bedingungen belegen, und Krankheitskeime sollen genetisch nachgewiesen werden. Mit den Projektergebnissen wird es erstmals möglich sein, die vielfältigen Migrationen während der ‚Völkerwanderungszeit‘ nachzuvollziehen. Woher kamen die vielen Völker, die in den Schriftquellen genannt sind? Wie weit haben sie sich vermischt? Entsprechen die genetischen Unterschiede kulturellen Differenzen? Und wie waren die lokalen Gemeinschaften aufgebaut, in denen die Menschen lebten?
Dadurch entsteht ein ganz neues Gesamtbild der Lebensverhältnisse vor 1500 Jahren. HistoGenes ist das erste genetische Großprojekt, in dem alle beteiligten Wissenschaften – Genetik, Archäologie, Geschichte, Anthropologie – intensiv zusammenarbeiten. Neue Daten erfordern neue Deutungen, und die können nur gemeinsam erarbeitet werden. Wien als internationales Zentrum der Frühmittelalterforschung steht im Brennpunkt eines Projektes, an dem die weltweit besten ihrer Fächer zusammenarbeiten.