Leo Santifaller (1890 – 1974) und die österreichische Geschichtswissenschaft nach 1945

Projektteam: Thomas Winkelbauer, Johannes Holeschofsky

Der Südtiroler Historiker Leo Santifaller war der wohl einflussreichste österreichische Historiker der Nachkriegszeit und auch als Wissenschaftsorganisator von enormer Bedeutung. Die Erforschung seines Lebens und Werkes und vor allem seiner wissenschaftlichen Kontakte und Beziehungen steht noch aus. Sein Nachlass im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv war bis dato der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Er stellt eine zentrale Quelle für die österreichische Historiografie- und somit Wissenschaftsgeschichte nach 1945 dar. Durch das geplante Projekt soll diese wichtige Forschungslücke geschlossen werden. Als möglichst umfassende Biografie und Netzwerkanalyse angelegt, stellt das Projekt bezüglich der Erforschung der Historiografiegeschichte der Nachkriegszeit jedenfalls eine Pionierarbeit dar.


Das Hauptziel des Unternehmens ist es, Santifaller als wissenschaftlichen Netzwerker nach 1945 zu beschreiben. Hierbei wird primär von seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mentor ausgegangen. Als Hypothese wird angenommen, dass seine Förderungstätigkeit auf unterschiedlichen qualitativen Ebenen ablief (Ernennung zum Ordinarius, zum Extraordinarius, Habilitationen etc.) und sich auch nach ideologisch-weltanschaulichen Kriterien kategorisieren lässt (katholisch-konservativ / deutschnational). Weiters wird die Hypothese aufgestellt, dass die österreichische Geschichtswissenschaft traditionell vom Konflikt zwischen offiziellem Patriotismus und offenen oder versteckten deutschnationalen Tendenzen beherrscht wurde und dass dieser Konflikt auch zu Leo Santifallers Zeiten eine wichtige Rolle spielte. Darüber hinaus soll Santifallers Rolle während der Zeit des Nationalsozialismus kritisch beleuchtet werden. Hierbei liegt der Fokus auf Santifallers zumindest zeitweiliger Sympathie für das Dritte Reich sowie auf der Mitarbeit des Historikers an von der NS-Ideologie beeinflussten Forschungsprojekten. Weiters soll danach gefragt werden, ob sich Santifallers politische Orientierung nach 1945 von seiner ‚tatsächlichen‘ Weltsicht unterschied und wie es ihm gelang, sich Zugang zu katholisch-konservativen Netzwerken zu verschaffen.


Es wird die vom Bearbeiter in kritischer Anlehnung an Wolfgang J. Weber und Wolfgang Reinhard entwickelte
Methode einer qualitativen Verflechtungsanalyse angewandt. Santifallers umfangreiche nachgelassene private und berufliche Korrespondenz dient hier als Quelle. Zudem sollen auch Santifallers internationale Kontakte mit dieser Methode erschlossen werden. Eine durch die Anwendung sozialgeschichtlicher Modelle bereicherte kritische Biografie soll dem Ziel gerecht werden, Leo Santifaller in seinem politischen wie auch wissenschaftlichen Umfeld sowie im Kontext der ideologischen Strömungen seiner Zeit umfassend darzustellen.