Stephan Steiner

„Das Reich Gottes hier in Wien“

Evangelisches Leben in der Reichshauptstadt während der Regierungsjahre Kaiser Karls VI.

(Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung
Ergänzungsband 65)

 

2021, 213 S.
 12 Abb., 24 x 17 cm, Gb.
Preis: € 49.00
ISBN 978-3-205-21287-4

Trotz der harten Verfolgungsmaßnahmen, die in den habsburgischen Erblanden während der Frühen Neuzeit gegen den Protestantismus angewandt wurden, gab es seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ausgerechnet in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien drei Orte, an denen evangelische Prediger ihre Funktionen vollkommen legal ausüben durften. Die Gesandtschaften Dänemarks, Schwedens und der Vereinigten Niederlande unterhielten in ihren Räumlichkeiten sogenannte „Legationskapellen“, die zu protestantischen Enklaven wurden. Sowohl die dänische als auch die schwedische Predigerstelle wurde seit den 1720er Jahren beinahe ausschließlich mit Pietisten Hallescher Prägung besetzt, die die Religionspolitik im gesamten Habsburgerreich analysierten und ihre Netzwerke auch dazu nutzten, wo immer möglich, zugunsten der verfolgten Protestanten zu intervenieren.

Im Band wird der Handlungsspielraum, Aktionsradius und Erfindungsreichtum der Prediger für die Regierungsjahre Kaiser Karls VI. zum ersten Mal umfassend untersucht. Jeder einzelne Geistliche wird biographisch verortet und in seinen spezifischen Leistungen für die Wiener Gemeinden vorgestellt. Deren Diasporasituation wird anhand alltagsgeschichtlicher Fragestellungen erhellt: Wie und wo fanden die wesentlichen Zeremonien (Gottesdienste, Taufen, Hochzeiten, Begräbnisse) statt? Wer war Zutrittsberechtigt und wer ausgeschlossen? Wieviel Druck wurde auf Gemeindemitglieder von Seiten der katholischen Kirche ausgeübt? Gab es Aufstiegschancen ohne Konversion?

Auch pietistische Hauslehrer, die in privilegierten protestantischen Wiener Haushalten üblich waren, sind neben den Predigern Untersuchungsgegenstand. Sie waren, durchwegs aus dem Alten Reich kommend, oft die schärfsten Beobachter der Situation in der Reichshauptstadt. Breiter Raum wird auch den einschneidenden religiösen Maßnahmen der Zeit eingeräumt, die aus dem Blickwinkel der Gesandtschaftskapellen oft in einem neuen, überraschenden Licht erscheinen. So wurden etwa die Salzburger Emigration, die Zwangsverschickungen aus Kärnten und Oberösterreich oder der Streit um die ungarischen Artikularorte von Wien aus aufs Genaueste beobachtet, kommentiert und zu beeinflussen versucht. In ruhigen Zeiten waren die Wiener Gesandtschaftsgemeinden ein Gegenentwurf zum religiösen Mainstream und eine geschützte Gegenwelt, in bewegteren Momenten oszillierten sie zwischen Subkultur und Untergrundaktivismus. Dadurch bildete sich ein einzigartiges Milieu heraus, das, weit über religionsgeschichtliche Aspekte hinaus, ein bemerkenswertes Licht auf Verhältnisse in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu werfen vermag. Die vorliegende Studie kann deshalb als Einblick in die gesellschaftliche Verfasstheit der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien ebenso gelesen werden wie als Beitrag zur österreichischen Protestantismusgeschichte.

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